Of Things Past and Imagined
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Der alles entscheidende Entschluss des Herrn Neumann

Neumann ließ seufzend den Stift aus der Hand fallen und starrte unzufrieden aus dem Fenster auf die Betongebäude an der gegenüberliegenden Straßenseite. Er ärgerte sich zwar über sich selbst, aber lag es nicht an der Zeit, in der er geboren worden war, dass er so ungeduldig war? Er hatte sich in den Kopf gesetzt, dass eine Geschichte mit Stift auf Papier geschrieben werden musste, anstatt mit einem Rechner, denn das ist ja so völlig unpersönlich und zudem unromantisch. Aber er hatte gemerkt, dass seine Gedanken schneller waren als die Hand, mit der er versuchte sie niederzuschreiben; außerdem auch, dass die Gedanken zwischen seiner Geschichte und Alltagssachen ständig hin und her schweiften. Konzentration war eine schwierige Sache, nicht zuletzt weil das Telefon, das neben dem Schreibblock lag, ständig aufleuchtete, oder weil er in regelmäßigen Abständen mit einem Auge auf den Bildschirm seines Laptops schaute, wo eine Nachricht nach der anderen reinkam. Er hatte sich schon mal überlegt, sein Büro nach dem Beispiel eines Arbeitszimmers im 18. Jahrhundert einzurichten und mit Feder und Tinte zu schreiben, hatte den Gedanken aber bald wieder abgelegt. Was hätte es für Sinn, in seinem Zimmer auf elektronische Geräte zu verzichten, wenn draußen die Autos ständig vorbeirasten und die Straßenlaternen ihr grelles Kunstlicht abwarfen? Nein, er konnte die Gegenwart weder umgehen noch ignorieren. Den Rechner ausschalten und das Telefon weglegen wäre eine Option gewesen, aber wenn er etwas nachschauen musste, war es doch verdammt praktisch, dass das allwissende Internet in der Nähe war. Und seine Frau würde sich sicherlich beschweren, wenn er telefonisch unerreichbar wäre. Sie hatte ja auch Recht, man weiß schließlich nie, was passieren kann. Unsinn!, dachte er im nächsten Augenblick; früher ging das ja auch irgendwie. Vielleicht erreichte einen die eine oder andere Nachricht etwas später als jetzt, aber war die Geschwindigkeit heutzutage nicht übertrieben? Nachrichten wurden versandt, bevor der Sender gut und recht überlegt hatte, was er eigentlich schreiben wollte. Was soll dieses Geüberlege auch, man schickt ja einfach eine zweite Nachricht hinterher, wenn einem noch etwas einfällt.

Eine Amsel landete auf dem äußeren Fensterbrett. Wärst du zumindest ein Rabe gewesen, hätte ich ein Gedicht über dich schreiben können, dachte er melancholisch. Werde ich jemals glücklich werden?, fragte er die Amsel. Sie schaute ihn mit schräggehaltenem Kopf an, stieß einen grellen Ton aus und flog davon. Vielleicht ist das ja Amselsprache für 'Nimmermehr', dachte er, und legte seinen Stift und das bekritzelte Papier endgültig weg. Er spürte das Verlangen, dem Vogel hinterher zu gehen, also zog er seinen Mantel an, nahm das Handy vom Tisch, überlegte kurz und legte es wieder hin. Er konnte ja wohl mal eine Runde gehen, ohne das Telefon mitzuschleppen, dachte er, nicht wenig stolz über diesen Entschluss.

Vor der Haustür holte er einmal tief Atem. Es jagte gerade ein Motorrad vorbei. Er schaute das Gefährt an und hörte zu, wie sein Fahrer kurz nach der Ecke aufs Vollgas trat und das Rad mit quietschenden Reifen davonsauste. Frische Luft, dachte er bei sich, gefüllt mit Abgasen und sonstigem Gift. Ein trauriges Lächeln formte sich auf seinen Lippen. Dann entschied er sich, ohne einen Grund dafür zu haben, nach links zu gehen, und begann seine Wanderung. Entscheidungen, überlegte er, was bedeuteten die eigentlich noch? War jeder seiner Entschlüsse nicht stets umkehrbar, wenn es ihm beliebte? Er konnte ja jederzeit wieder umdrehen und doch dem Weg folgen, der von seinem Haus aus gesehen nach rechts führte. Gab es Entscheidungen, die nicht rückgängig gemacht werden konnten? (Außer natürlich so Sachen wie sich aus einem Fenster im zweiunddreißigsten Stockwerk zu werfen, das machte man im Normalfall nur einmal.) Er überlegte. Als er so darüber nachdachte, kam er mehr und mehr zu er Überzeugung, dass sein erster Gedanke völlig falsch gewesen war. Alle Entscheidungen bewirken irgendetwas. Vielleicht hatte er auf dem schon von ihm zurückgelegten Weg auf der Straße nach links eine Ameise zertreten, was nicht passiert wäre, wenn er sich schon an der Tür anders entschieden hätte. Leise entschuldigte er sich bei der imaginären Ameise; vielleicht war sie ja wirklich da gewesen. Er hatte jedenfalls nicht allzu aufmerksam geschaut, wo er seine Füße hatte niederkommen lassen. Oder, dachte er weiter, es hätte, wenn er sofort nach rechts gegangen wäre, ein Vogel auf seinem Haupt koten können, was er vermieden hatte indem er erst einen Abstecher nach links gemacht hatte. Er blieb jetzt auf dem Weg nach links, der Weg, der zum Bahnhof führte. Es konnte ja durchaus sein, dass der Vogel rechts jetzt erst kam. Aber er konnte ja auch genauso gut jetzt über ihn hinweg fliegen und dahin koten, wo er jetzt lief. Schon zweifelte er, ob der Weg nach rechts nicht doch der bessere gewesen wäre, aber in dem Moment nahm er sich vor, bei diesem Spaziergang keine einzige Entscheidung rückgängig zu machen und zu prüfen, wie oft er eigentlich in die Versuchung kommen würde, das zu tun.

Er kam auf die Idee, in dem Kiosk am Bahnhof eine Zeitung zu kaufen, und da er das jetzt gedacht hatte, musste er es, seinem Versprechen an sich selbst treubleibend, auch tun. Der Laden war leer, nur am Eingang stand eine Mutter mit ihrem Sohn, der vielleicht fünf, höchstens sechs Jahre alt war und mit größtem Interesse auf die Bücher seiner Altersgruppe schaute. Der Bub zog seine Mutter an den Ärmel und bat sie flehentlich, eins der Büchlein für ihn zu kaufen, was sie auch tat, um den Kleinen dann mit zum Bahnsteig zu schleppen, denn angeblich wollten sie mit dem Zug fahren, der gerade in den Bahnhof einfuhr. Da er ein noch unerklärbares Interesse an dem kleinen Jungen spürte, kaufte Neumann ebenfalls eine Fahrkarte und folgte den beiden in den Zug hinein, dessen Türen unmittelbar hinter ihm schlossen. Gut, dachte er; jetzt könnte ich nicht mal mehr zurück, würde ich es wollen. Einen Moment lang bereute er, sein Handy nicht mitgenommen zu haben, denn er blieb jetzt deutlich länger von zu Hause weg als er ursprünglich gedacht hatte, aber er konnte es eh nicht herbeizaubern, deswegen zuckte er mit den Achseln und setzte sich. Der Bub war ebenso vertieft in seine Lektüre wie seine Mama in ihr Handy. Neumann erfreute sich darüber, dass dieses Exemplar der gegenwärtigen Jugend in Literatur interessiert zu sein schien – sofern man die Lektüre eines Sechsjährigen als Literatur bezeichnen kann, aber er war der Überzeugung, dass dieser Bub in seinem weiteren Lebenslauf sicher noch mit richtiger Literatur in Berührung kommen würde; wenn er es nicht glaubte, so hoffte er es jedenfalls. Nun wusste er auch, warum ihn der Junge so interessierte: hatte er selbst früher nicht auch jede Gelegenheit ergriffen, zu lesen? Er sah in dem Kind eine frühere Version seiner eigenen Person, er blickte sozusagen in einen Spiegel der Vergangenheit. Der Junge schaute vom Buch hoch und fand Neumanns Blick, starrte ihn eine Weile ausdruckslos an und wand seinen Blick dann nach draußen. Neumann folgte den Augen des Jungens und betrachtete ebenfalls die vorbeifliegenden Felder, die sich mit Häusern, Bürogebäuden und Wegen abgewechselten und in regelmäßigen Abständen von Strommasten geziert wurden. Die Berge und Wälder, wovon er wusste, dass sie hinter der Bebauung sichtbar gewesen wären, sah er in seiner Fantasie. Er dachte an seine eigene Jugend, seine Studentenzeit, in der er durch die Wälder spaziert war und über die wichtigen Sachen des Lebens, wie Frauen und ewigen Ruhm, nachgedacht hatte. Eine Frau hatte er inzwischen ergattert, seit – wie lange war es eigentlich? - jedenfalls seit über zwanzig Jahren war er mit ihr zusammen; der ewige Ruhm ließ dagegen noch auf sich warten. Der Vorteil von Ewigkeit ist aber, dass es im Prinzip egal ist, wann sie beginnt, denn die Zeit, die darauf folgt, ist die Zeit, die wirklich zählt, so munterte er sich selbst zumindest immer auf, wenn ein Anfall der Selbstzweifel in seiner Brust aufwallte. Er hatte Geschichte studiert, was im Nachhinein nicht das geeignetste Studienfach für ihn gewesen war, denn er neigte zu Melancholie und wusste zu jeder Epoche etwas zu benennen, was bewies, dass der Zeitraum der Geschichte ein besserer gewesen war als der, in dem er zur Welt gekommen war. Er hatte den größten Teil seines Lebens als Lehrer an einem Gymnasium gearbeitet, eine Beschäftigung, die ihm genauso viel Freude wie Leiden gebracht hatte. Vor einigen Jahren war er in Frührente gegangen und hatte sich seiner eigentlichen Leidenschaft, nämlich dem Schreiben, gewidmet. Zuweilen vermisste er die Arbeit an der Schule, gerade wenn er mit dem Schreiben nicht weiterkam, sowie es jetzt der Fall war. Aber daran wollte er ja gar nicht denken. Er schaute den kleinen Jungen an und bewunderte sein intelligentes Aussehen, die stille Begeisterung in den großen Augen, die immer noch ununterbrochen aus dem Fenster schauten. Erst als das Buch von dem kleinen Schoß herunterglitt und die Mutter es verärgert vom Boden hochhob, las der Junge weiter; seine Zungenspitze blickte dabei aus dem rechten Mundwinkel hervor. Neumann realisierte, dass der Junge in einem Alter war, in dem er wahrscheinlich noch gar nicht richtig lesen konnte und deshalb zweifellos einiges zu den Bildern in dem Buch fantasieren müsste, was seine Zuneigung für den Kleinen nur noch vergrößerte. Er sah ihn schon zum erfolgreichen Autor aufsteigen, und hoffte, dass der kleine Bub in seinem noch bevor liegenden Leben bloß nicht die gleichen Fehler begehen würde, wie er sie begangen hatte. Als ihre Augen einander kreuzten, lächelte er den jungen Schriftsteller an, der aber erwiderte dem Lächeln mit gleichgültiger (oder sah er sogar etwas wie Abneigung in den jugendlichen Augen?) Miene. Ab dem Moment fühlte er sich von dem Jungen geschlagen und traute er sich nicht mehr, ihm noch einen Blick zu würdigen.

Der Zug bremste. Er hatte am Bahnhof geraten, dass die Mutter mit ihrem Sohn in die nächste Stadt fahren würde und hatte dementsprechend eine Fahrkarte dorthin gekauft, er war also gezwungen dort auszusteigen, auch wenn sich herausstellen würde, dass die zwei weiterfahren würden. Obwohl er seine Vermutung bewahrheitet sah, brach er die Verfolgung ab, denn das Schamgefühl, das das Kind in ihm hervorgerufen hatte, war immer noch nicht gänzlich erloschen. Da er jetzt aber in der Stadt war, konnte er genauso gut mal schauen, ob er dort das eine oder andere Interessante vorfinden würde, das ihn inspirieren könnte, bevor er wieder in den Zug nach Hause einsteigen würde.

Er lief eine Weile durch die Stadt, ohne etwas zu entdecken, das ihn reizte. Er versuchte zwar in Kleinigkeiten etwas Schönes zu entdecken, aber alles, was er sah, waren durch die Stadt eilende Menschen, ob es nun Studenten, Geschäftsleute oder Mütter waren. Er stellte fest, dass die meisten entweder ein Handy am Ohr hatten oder im Laufen darauf herumtippten. Er griff automatisch in die Tasche, wo sich seins normalerweise befand, aber erinnerte sich dann, dass er das ja auf seinem Schreibtisch hatte liegen lassen. Es war erst früh am Nachmittag, seine Frau war also noch an der Arbeit. Er würde bestimmt schon zu Hause sein, bevor sie ihn vermissen konnte. Hoffentlich fragte sie nicht, wie sein Tag gewesen war.

Die Wolken hatten sich mittlerweile im Himmel zusammen-gezogen, und schon bald darauf spürte er die ersten Tropfen auf sein Haupt niederkommen. In Ermangelung eines Regenschirms stellte er den Kragen seines Mantels hoch und duckte sich so weit wie möglich hinein. Er überlegte kurz, ob er umkehren und wieder zum Bahnhof gehen wollte, entschied sich dann aber doch nach links zu gehen und den Fluss zu überqueren, in der Absicht, an der anderen Seite der Brücke eine Wirtschaft aufzusuchen und da zu warten, bis das Unwetter vorübergezogen war. Immerhin war der Weg kürzer, umso schneller würde er also trockene Füßen haben. Das Wetter passte wunderbar zu seiner trübseligen Stimmung, dachte er; es war genau, wie er es in einem Roman schreiben würde, wenn er jemals dazu kam. Sicher hatte er mehr von sich erhofft, als das er jetzt erreicht hatte. Hatte der Jungen im Zug ihn nicht auch missbilligend angeschaut, und hieß es nicht, die Kinder lügen nicht? Der Kleine hatte ihn natürlich sofort durchschaut, er hatte ihn angesehen, dass er in seiner Aufgabe, die er sich zwar selbst gestellt hatte, sie deshalb aber nicht weniger ernst genommen hatte, gescheitert war.

Da er so in seinen wehmütigen Gedanken vertieft war, bemerkte er nicht, dass er einen abgesperrten Teil der Brücke betreten hatte, wo wegen Sanierungsarbeiten das Geländer fehlte. Als einer der Bauarbeiter ihn schreiend darauf Aufmerksam machte, drehte Neumann sich erschrocken um und glitt dabei auf einer tieferliegenden Stelle, wo sich das Regenwasser gesammelt hatte, aus. Er konnte sich nicht aufrecht halten und stürzte unmittelbar auf den Brückenrand zu. Er versuchte sich noch festzuhalten, aber ihm fehlte die Kraft, und auch der Mann, der ihm zu Hilfe gerannt war, kam zu spät, um ihn zurück auf die Brücke ziehen zu können.

Im Fallen schaute er noch hoch, starrte in das erschrockene Gesicht des jungen Mannes, dem hoffentlich eine bessere Zukunft bevor stand als seine eigene Vergangenheit, und ihm blieb gerade noch genügend Zeit um zu denken, dass also selbst die Entscheidung, in die eine oder die andere Richtung zu gehen, nicht immer umkehrbar ist.
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