Of Things Past and Imagined
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Dr. Reinhardt oder der Wunsch, ein Gott zu sein

Es war eher durch Zufall, dass ich mit den sonderbaren Arbeiten des Doktor Reinhardts bekannt wurde, obwohl mich im Nachhinein das merkwürdige, jedoch überzeugte Gefühl überkam, dass ich früher oder später ohnehin Bekanntschaft mit ihm gemacht hätte. Aber lassen Sie mich mit meiner Geschichte von vorne anfangen.

Wie bei vielen Geschehnissen im Leben ist es schwer zu sagen, wann es genau seinen Anfang fand, denn es gibt immer verschiedenste Faktoren die zu bestimmten Entscheidungen und darauf basierten Handlungen führen. Im Grunde genommen könnte man sagen, dass es anfing, als ich mein Medizinstudium abgeschlossen und eine Stelle in einer Klinik am Chiemsee, dem wunderschönen Gletschersee in den deutschen Alpen, angenommen hatte. Seitdem sind viele Jahre verstrichen, aber ich wohne immer noch in dem gleichen, kleinen, aber gemütlichen Haus in Seebruck, genauso alleine und genauso friedlich wie ich dort immer gelebt habe. Von meiner Terrasse geht man nur wenige Meter bis zum Ufer, und nach der Arbeit oder an Wochenenden pflege ich immer gerne am See entlang zu wandern und entweder nur die Seevögel und die Berge zu betrachten oder nachzudenken. Ich bin ein besinnlicher Mensch und diese einsamen Spaziergänge tun mir äußerst gut. Die meisten Menschen aus der Gegend kennen mich und grüßen mich wenn sie mir begegnen, aber da sie wissen, dass ich in den Momenten meine seltene Ruhe genieße, behelligen sie mich nicht mit freundlich gemeinten Gesprächen. Es war am 7. Januar, als ich mich trotz drohend aussehenden Himmels wieder auf so einen Spaziergang begab. Ich hatte gerade die letzten Stunden einer siebentägigen Arbeitswoche hinter mich gebracht. Viele meiner Kollegen hatten sich zwischen Weihnachten und den Heiligen Drei Königen noch einige Tage Urlaub gegönnt, und da ich keine Familie habe, die ich an Weihnachten besuchen konnte, hatte ich mich bereit erklärt, einige ihrer Operationen zu übernehmen. Nun standen mir zwei freie Tage bevor, die ich in aller Ruhe zu verbringen plante.

Es war ungewöhnlich kalt, ein eisiger Wind wehte zwischen den Bergen hindurch und peitschte mir ins Gesicht. Es konnte hier an milden Wintertagen bezaubernd schön sein, wenn die Sonne schien und der Himmel von einem solchen wunderbaren blau war, dass sich die schneebedeckten Berge in dem See spiegelten und die Schwäne auf den Gipfeln zu schwimmen schienen. Nun war der See zugefroren, man hörte das Eis gelegentlich knistern, ein wirklich unheimliches Geräusch, das mich, immer wenn es unerwartet erklang, unwillkürlich auffahren ließ. Während meines Spaziergangs begegnete mir kein einziger Mensch und ich glaubte mir schon allein auf der Welt. Obwohl der Tag nicht wirklich hell gewesen war, bemerkte ich, dass die Abenddämmerung eingesetzt hatte, und fast zur gleichen Zeit bemerkte ich, dass kleine Schneeflocken herunter rieselten. Es wirkte im ersten Moment beruhigend, aber schon bald wurde aus dem lieblichen Schneefall ein richtiger Sturm, und es war als ob die Dämmerung nur einige Minuten gedauert hatte, denn schon sah ich kaum noch meine Hand vor Augen. Weil ich eine unerklärbare Abneigung gegen Regenschirme empfinde, hatte ich auch nun keinen dabei. Ich duckte mich mehr aus Reflex als aus Überzeugung, dass es etwas bringen würde, tief in den Kragen meines Wollmantels, aber ich konnte nicht verhindern, dass immer mehr Schnee in meinen Nacken fiel, wo es sofort schmolz und in kalten Rinnsalen meinen Rücken herunter glitt. Durch meinen warmen Atem beschlug meine Brille, Schneeflocken bedeckten die Außenseite der Gleichen. Es war völlig sinnlos weiterzugehen, denn ich konnte nun, teils durch den Schnee, der ihn bedeckte, teils durch die Dunkelheit, und teils durch meine Brille, sogar den Weg nicht mehr erkennen. Ich war sicher schon vier Kilometer gelaufen, seitdem ich mein Haus verlassen hatte, eine Rückkehr war also undenkbar. Ich wollte mich gerade auf eine einigermaßen trockene Stelle unter einem Baum setzen und warten, bis das Unwetter vorüberziehen würde, als ich hinter den Bäumen ein blasses Licht erkannte. Ich überlegte kurz, aber entschied mich dann doch einen Weg durch das Gebüsch zu suchen und auf das Licht zuzugehen, denn es sah wirklich nicht danach aus, dass der Schneefall bald ein Ende nehmen würde. Das Licht kam von einem großen, alleinstehenden Haus, dass ich trotz meiner jahrelangen Spaziergänge noch nie vorher bemerkt hatte. Ich fand es irgendwie lustig, dass ich ausgerechnet an dem Abend, an dem ich die mir bekannten Wege nicht zu erkennen wusste, ein unbekanntes Gebäude entdeckte. Vor dem Haus befand sich eine lange Auffahrt, die von einem automatischen Gitter abgesperrt war. Ich suchte nach der Klingel, aber in dem Moment öffnete sich schon die Haustür und eine Frau, etwa in meinem Alter, also um die fünfzig, erschien in der Öffnung. Sie eilte zu dem Gartentor und öffnete eine schmale Tür, die ich noch nicht gesehen hatte.

»Um Gottes Willen, was machen Sie bei dem scheußlichen Wetter noch draußen?«, fragte sie, aber bevor ich antworten konnte, schob sie mich durch das Tor, schloss es hinter mir und gebarte, dass ich eiligst reingehen soll. Sie folgte mir und klopfte erst den Schnee von meinem Mantel, den sie mir abnahm, und dann erst von ihrem Kleid.

»Ich danke Ihnen«, stammelte ich, »Ich hatte mit dem Wetter nicht gerechnet und wurde dadurch während eines Spaziergangs überrascht.« Sie schaute mich mit schräggehaltenem Kopf untersuchend an, als ob sie prüfen wollte, ob ich wirklich so dumm sein könnte, und anscheinend war mein Aussehen befriedigend genug, denn sie grinste und lud mich zum Eintreten ins Wohnzimmer ein. Ich durfte mich auf die Couch setzen, während Sie sich auf die Kante des gegenüberstehenden Sessels hinsetzte. Sie stellte sich vor als Marie und erzählte mir, dass sie schon seit Jahren in diesem Haus wohne, dass aber im Besitz ihres Herren, des Doktor Reinhardt sei. Auf meine Äußerung, dass ich das Haus noch nie vorher gesehen hatte, lächelte sie etwas traurig und behauptete, Reinhardt hinge sehr an seiner Privatsphäre. Da ich spürte, dass ihr dieses Thema unangenehm war, fragte ich, ob außer ihr und dem Herrn noch jemand in dem großen Haus wohnte. »Ach! Haufenweise Leute wohnen hier, Sie dachten doch nicht ernsthaft, dass wir dieses Haus nur zu zweit bewohnen?« lachte sie, und ich meinte etwas Nervosität in ihrer Stimme zu hören, die sie aber vor mir zu verbergen versuchte, weshalb ich darauf auch nicht weiter achtete.

»Es gibt den Koch, zwei Putzfrauen - Sie haben keine Ahnung, wie viel Aufwand es ist, ein Haus wie dieses sauber zu halten - , den Gärtner, der in dieser Jahreszeit selbstverständlich nicht viel zu tun hat, außer die Zufahrt zu pflegen, und die beiden Gehilfen des Doktors.«

»Ist Ihr Herr denn Arzt, wie ich auch?«

»Sie sind Arzt?«, fragte sie überrascht, als ob ihr außer ihrem Herrn noch nie einer begegnet war. Als sie feststellte, dass ich ihre Frage ja schon beantwortet hatte, beantwortete sie die meinige: »Nun, Arzt... das ist er nicht gerade... er war mal praktizierender Chirurg, aber seitdem die gute Frau gestorben ist hat er seine Arbeit hingelegt... Viele, viele Jahre ist das schon her, ich war gerade mal zwanzig Jahre alt, ich hatte mich damals furchtbar in den damaligen Gärtner verliebt, bis er mit einem Mädchen aus dem Dorf davonlief. Achja, das waren Zeiten, damals... Aber ich sehe schon, sie warten auf eine Erklärung. Also, der Doktor übt seinen Beruf jetzt nur noch in seinem Labor aus, dass er im Hinterteil des Hauses gebaut hat, und außer den beiden Gehilfen lässt er niemanden dort hinein. Niemals habe ich auch nur einen Winkel jenes Raums gesehen. Ab und zu höre ich seltsame Geräusche dorther kommen, aber ich habe gelernt, meine Neugierde einzudämmen. Neugierde ist eine schlechte Eigenschaft, wissen Sie.« Ich nickte, ohne wirklich überzeugt zu sein. Schließlich liegt es in der Art eines Akademikers, immer forschen zu wollen, und Neugierde ist gerade der Trieb dazu.

»Ist der Doktor denn gerade zu Hause?«

»Ich... Ich glaube schon, es wäre ja schlimm, wenn er bei dem Wetter draußen wäre, vor allem in seinem Alter, aber er ist sicherlich furchtbar beschäftigt. Möchten Sie einen Tee? Sie können ja hier bleiben, bis es trocken ist, es sei denn, Sie haben es eilig, dann rufe ich einen von den Jungs, der kann Sie sicher zu Ihnen nach Hause fahren.«

»Ein Tee wäre prima, vielen Dank,« sagte ich lächelnd. Die Frau sprang sofort auf um den versprochenen Tee zu bereiten, und ich hatte Zeit mich im Wohnzimmer umzusehen. Es war ein außergewöhnlich großes und dunkles Zimmer. An den Wänden hingen Bilder von griechischen Göttern, und zwar so viele, dass das Zimmer fast einem Ausstellungsraum eines Museums der Antike glich.

»Der Doktor ist wohl ein Liebhaber der griechischen Antike?«, merkte ich auf, als Marie mit dem Tee wiederkam.
Sie zögerte kurz, musterte mich noch einmal, und sagte dann: »Er äußert sich mir gegenüber sehr selten, wissen Sie. Er ist immer freundlich, wirklich, ich habe keinerlei Beschwerden, aber in all den Jahren, seitdem ich hier wohne habe ich ihn nie so richtig kennengelernt. Er ist sehr verschlossen.«

Der Mann begann mich zu interessieren, vor allem fragte ich mich, weswegen er seine Arbeiten in dem Labor vor seinen Mitarbeitern so angstvoll verborgen zu halten pflegte. Ich wunderte mich, ob er mich als Berufskollege in seine Arbeit einweihen würde, und sann noch darüber, wie ich das Marie am besten fragen konnte, als die Tür sich öffnete. Ein Mann trat ein, und sein Anblick ließ einen kalten Schauer über meinen Rücken laufen, obwohl ich nicht genau sagen konnte, was an ihm das verursacht hatte. Sofort verstand ich, dass dieser Mann der Doktor Reinhardt sein müsste. Das Merkwürdige an seinem Aussehen war, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie alt er sein könnte. Nachdem was Marie mir erzählt hatte, hatte ich erwartet, dass er mindestens zwanzig Jahre, eher aber noch älter war als ich. In seinem Gesicht war aber keine einzige Falte zu entdecken, außerdem hatte er volle blonde Haare, die der Frisur einer seiner griechischen Helden gleichkam. Als er mich erblickte, kam er auf mich zu und begrüßte mich freundlich. Seine Stimme verwirrte mich noch stärker, denn es war die Stimme eines älteren Mannes.

»Willkommen in meinem Hause,« sagte der Doktor, «Womit habe ich diesen Besuch verdient?«

»Der Herr Doktor Henninger wurde von dem Unwetter überrascht,« sagte Marie hastig, bevor ich antworten konnte. Ich begriff, dass unerwarteter Besuch in diesem Haus nicht üblich war.

»Ja, das Wetter zeigt sich heute von einer wilden Seite,« murmelte Reinhardt. »Ein Glück also, dass Sie mein Haus gefunden haben,« lächelte er, und dann: »Wir sind also Kollegen?«

»Ich bin Chirurg in der Klinik,« bestätigte ich.

»Schön, sehr schön,« sann er eher, als dass er mich ansprach, während er über sein für sein mutmaßliches Alter außergewöhnlich kräftiges Kinn strich.

Ich schwieg, denn der geheimnisvolle Schleier, der über ihm und seinen Tätigkeiten zu hängen schien, machte, dass ich nicht nach seiner Arbeit fragen wollte.

»Möchten Sie die Nacht hier verbringen?«, fragte Reinhardt mit einem Blick aus dem Fenster.

Ich folgte seinem Blick und stellte fest,dass das Wetter sich tatsächlich in den nächsten Stunden nicht bessern zu wollen schien, daher war der Vorschlag ein attraktiver.

Der mysteriöse Mann zeigte sich offener, als ich nach dem Bild von Marie skizziertem Bild erwartet hatte. Aber auch sie schien von diesem Vorschlag überrascht zu sein, denn sie sprang nervös auf, und sagte, dass sie sofort das Bett in Ordnung machen wollte, sie sich aber sicher war, dass einer von den Männer mich nach Hause brächte, wenn ich das vorziehen würde.

«Ich würde den Vorschlag gerne annehmen,« sagte ich ihr, worauf sie eilenden Schrittes das Wohnzimmer verließ.

Reinhardt und ich waren jetzt allein im Zimmer. Ich versuchte das unangenehme Gefühl, das der Mann in mir verursachte, zu ignorieren und versuchte auch meinen Blick von ihm loszureißen, denn der war wie an ihm geheftet, als ob ich ein Geheimnis zu lösen vermochte, indem ich durch ihn durch guckte.

»Auf welchem Gebiet sind Sie spezialisiert?«, fragte Reinhardt.

»Ich befasse mich hauptsächlich mit Unfallchirurgie.«

Er machte ein Geräusch, dass ich nicht gut zu deuten wusste.

»Und Sie?«, fragte ich vorsichtig, als er nicht weiterfragte.

»Ich befinde mich schon eine Weile im Ruhestand... Habe aber in meinem Leben schon so ziemlich alles operiert, was es zu operieren gibt.«
Der Mann musste also wirklich deutlich älter sein als ich! Ich verstand, dass es plastische Chirurgie sein musste, was seinem Antlitz einen solchen Glanz verlieh, aber wunderte mich über die Sauberkeit, mit der die Operationen durchgeführt waren, denn es war keine einzige Narbe zu entdecken, und das Gesicht war so lebendig wie das eines Dreißigjährigen.

»Wenn Sie mir verzeihen würden... Ich habe noch einiges zu tun. Marie wird Ihr Zimmer bald fertig gemacht haben. Fühlen Sie sich hier zu Hause.«

Ich nickte ihm dankend zu und ließ mich schon bald von Marie zu meinem Zimmer bringen.

Es war mitten in der Nacht, als ich erwachte. Der Wind hatte sich gelegt, die Welt wurde umhüllt von einer immensen Stille, der unvergleichlichen Stille, sowie es sie nur nach heftigem Schneefall gibt. Der Mond war dreiviertel voll und versuchte sein Licht durch die Wolken zu drängen. Durch die Reflektion auf den weißen Wiesen schien es draußen sehr hell zu sein. Nun merkte ich, was mich geweckt hatte – ich hörte ein dumpfes Geräusch aus dem hinteren Teil des Hauses kommen, von dort, wo sich Dr. Reinhardts Labor befand. Ein unbeschreiblicher Drang, das Labor zu besuchen, überfiel mich. Ich blickte auf meine Uhr. Dreiviertel drei. In einigen Stunden würde ich nach Hause zurückkehren, und wer wusste, ob ich noch einmal die Chance bekam, diesen Dr. Reinhardt zu sehen? Laut Marie war Besuch ja eher eine Seltenheit. Ich war mir deswegen nicht ganz sicher, ob ihn mein Besuch nicht unangenehm war. Andererseits war er ja sehr zuvorkommend gewesen und wir waren gewissermaßen Kollegen. Ich zog mich also an und schlich durch das große Haus. Bis auf die Geräusche aus dem Labor, die allmählich lauter wurden, war es mäuschenstill, alle Einwohner des Hauses schenen sich im tiefen Schlaf zu befinden. Als ich die Tür des Labors erreicht hatte, zögerte ich plötzlich. Hatte Reinhardt mir nicht im ersten Moment Angst engeflößt? Was wäre, wenn sich hinter der Tür etwas befand, das ich gar nicht sehen wollte? Aber meine Neugierde übernahm die Oberhand. Ich versuchte die Klinke hinunter zu drücken und stellte überrascht fest, dass die Tür unverschlossen war. Ich öffnete sie ein wenig und spie hinein. Ein grelles Licht füllte den Raum. Das Labor hatte ganz deutlich den Anschein eines OP-Raums; an der linken Seite standen hohe Regale mit Skalpellen, Zangen, Scheren und Flüssigkeiten, an der rechten Seite verschiedene Tiefkühltruhen, und in der Mitte des Zimmers stand eine Liege. Ich sah, dass eine Glastür in einen weiteren Raum führte. Die Geräusche waren mittlerweile verstummt. Da ich niemanden sah, trat ich in das Zimmer hinein und ging auf die zweite Tür zu. Dort sah ich Reinhardt, wie er über einen zweiten OP-Tisch gebeugt stand, worauf ein Mensch lag. Ich räusperte mich, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ruhig, als ob er mich schon längst bemerkt hatte, drehte er sich um, Nadel und Faden in der Hand.

»Doktor Henninger. Eine Überraschung. Habe ich Sie geweckt?«

Ich konnte nicht antworten, denn mein Blick wurde von dem Mann angezogen, der mit halb aufgeschnittenem, halb zugenähtem Bauch auf dem OP-Tisch hinter ihm lag. Es bedurfte keinem ärztlichen Urteil, um festzustellen, dass dieser Patient tot war. Ein Übel überkam mich, als ich sah, dass sich in einer Schüssel auf einem Beistelltischchen eine Leber befand, die zweifellos von dem leblosen Patienten stammte. Obwohl ich selbst Chirurg war, konnte ich ein Gefühl des Grauens nicht unterdrücken. Etwas stimmte nicht. Warum sollte ein Arzt nachts, insgeheim, und vor allem ohne jegliche Assistenz eine Transplantation durchführen? Und was mich noch mehr beunruhigte – woher hatte er den Verstorbenen? Schon bereute ich, dass ich jemals in das Zimmer eingetreten war.

Reinhardt bemerkte meinen Schock und sagte mir mit ruhiger Stimme, ich solle mich kurz setzen, er müsse diese Operation noch schnell abschließen und komme dann zu mir.

Wortlos entfernte ich mich und setze mich auf den ersten Stuhl, den ich im Vorraum fand. Nach wenigen Minuten trat Reinhardt aus dem unheimlichen Raum zu mir hinein.

»Es tut mir Leid, wenn Sie etwas… irritiert sind wegen dem, was Sie gesehen haben. Aber ich bin zuversichtlich, dass Sie alles verstehen werden, wenn Sie mich meine Arbeit erklären lassen.« Ich nickte nur. Was hatte er wohl mit der Leiche gemacht? Und was hatte er mit der Leber vor?

»Ich habe heute Abend an Ihrem erstaunten Blick gesehen, dass Sie sich über mein Aussehen gewundert haben. Gewiss hatten Sie eine andere, ältere Vorstellung von mir?« Das musste ich gestehen. Er lächelte.

»Ich werde Sie in mein Geheimnis einweihen. Sie hatten Recht, als sie vermuteten, dass ich älter sein müsste als Sie. Die Wahrheit ist, dass ich neunundsiebzig bin.« Ein Ausruf des Staunens entfuhr meinen Lippen.

»Aber wie…«, stammelte ich.

»Wie ich so jung aussehe? Ganz einfach. Ich befinde mich in einem Prozess der ständigen Erneuerung. Die Chirurgie ist mittlerweile so weit vorangeschritten, dass wirklich jedes Körperteil ersetzbar ist, sowohl die Organe als auch das Hautgewebe. Bevor mein Körper alt werden kann, ersetze ich seine Teile. Ich bin, wenn Sie so wollen, ein Gerät, wovon die ausgedienten Teile ausgewechselt werden. Außerdem bediene ich mich regelmäßig dem fast magischen Botulinumtoxin, das Sie sicher auch kennen… Ein Wundermittel für meine Zwecke.«

»Diese Leber...«

»Wird in einige Stunden die meinige ersetzen.« Ich konnte es nicht fassen. Der Mann redete von Organtransplantationen, als ob es nur um den Kauf einer neuen Brille ging.

»Ich sehe, dass das Sie ein wenig beunruhigt,« fuhr Reinhardt fort, und er drückte sich damit etwas vorsichtig aus, denn ich war zutiefst erschüttert. Das Ganze war mir furchtbar unheimlich – obwohl ich eigentlich keine bängliche Person bin, fühlte ich mich durch die stille, weiße Nacht, das fremde Haus und das viel zu junge Aussehen des merkwürdigen Doktors beängstigt.

Er stand auf und ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, eine Runde durch den Raum.

»Die Wissenschaft gelangt an ihre Grenzen,« sagte er. »Wir können zum Mond fliegen. Wir können das Entstehen des Weltalls nachahmen. Wir können uns selbst kopieren. Immer mehr Krankheiten sind heilbar. Aber noch lange nicht alle! Und dann rede ich noch nicht von dem Verfall, der uns zuteilwird. Wir können so vieles, haben es aber immer noch nicht geschafft, unsterblich zu werden. Und das, obwohl dies schon seit Jahrhunderten das höchste Streben des Menschen ist. Wir glauben an ein Leben nach dem Tod, nur, um nicht daran denken zu müssen, dass das Leben irgendwann endet.«

Das war also sein Ziel! Er wollte seinen Körper jung halten, indem er ihn immer wieder mit Körperteilen jüngerer Leute versorgte...

»Ich werde der erste Mensch sein, der nie stirbt,« fuhr er stolz fort. »Und nicht nur meine Organe und Haut werden erneuert, meine Gelenke werden allmählich durch Prothesen ersetzt, sobald der Verschleiß störend wird. Beide Knie sind schon aus Metall.« Es war schlichtweg krankhaft. Wie ein moderner Frankenstein setzte er ein Monster aus Körperteilen zusammen - nur wurde er selbst zum Monster! Andererseits... wenn es ihm gelingen würde...! Stellen Sie sich nur vor: das ewige Leben und die ewige Jugend lägen endlich vor unseren Füßen! Und irgendwann, wenn das Klonen weit und sicher genug entwickelt wäre, wäre es nicht mehr notwendig, Organe von Menschen zu entnehmen. Das Ersetzen von Körperteilen würde tatsächlich nichts anderes mehr sein als das Ersetzen einer durchgebrannten Glühbirne!

»Und nun, mein lieber Herr Henninger, würde ich Sie bitten, mir zu helfen, Sie sind gerade zur rechten Zeit gekommen, wissen Sie, nachdem mein erster Assistent,« - er nickte mit dem Kopf in Richtung des Raumes, wo ich ihn vorgefunden hatte - »so einen unglücklichen Unfall erlitten hat...«

»Der Mann auf der Liege war Ihr Assistent?« rief ich entsetzt aus.

»Es ist traurig, was ihm widerfahren ist,« seufzte Reinhardt, »aber ich gebe zu, dass ich den Vorfall nutzen konnte. Der arme Junge - Gott sei seine Seele gnädig - hatte zufälligerweise die gleiche Blutgruppe wie ich. Es wird meine erste Organtransplantation sein. Und Sie werden sie durchführen.«

Es lag etwas furchtbar drohendes in seinem Ausdruck. Trotz ruhiger Stimme wirkte er autoritär, ich fühlte, dass er keine Widersprache dulden würde. Dieser arme junge Mann... Etwas sagte mir, dass irgendwas an diesem vermeintlichen Unfall nicht stimmte.

»Ich?« wiederholte ich unsicher.

»Ja. Sie sind Chirurg, nicht wahr?«

»Ja, aber...«

»Wunderbar. Sie verstehen, dass ich mir keinen Besseren wünschen kann - ich könnte ja schwerlich mit meiner Leber in ihre Klinik fahren und einen Arzt bitten, sie in mich zu verpflanzen,« lachte er.

»Nein... Da haben Sie wohl recht,« murmelte ich.

»Gut. Dann wollen wir uns mal vorbereiten. Ein Organ befindet sich am besten so kurz wie möglich außerhalb eines Körpers.«

Mir blieb keine Wahl. Je länger ich Reinhardt betrachtete und zuhörte, desto überzeugter war ich, dass dieser Assistent nicht zufällig gestorben war. Was würde der Doktor mit mir anstellen, wenn ich nicht gehorchte? Er hatte mir nicht gedroht, aber es fühlte sich nichtsdestotrotz so an. Ich weiß, im Nachhinein ist es schwach, dass ich nicht mal einen Versuch unternommen habe, mich zu wehren, aber Sie müssen es mir verzeihen, und ich erlaube mir zu behaupten, dass die meisten von Ihnen das Gleiche gemacht hätten, wenn Sie sich in der gleichen Situation befunden hätten. Außerdem blieb da noch diese perverse aber dennoch bestehende Neugierde eines Wissenschaftlers: Falls Reinhardt sein Vorhaben erfolgreich durchführen würde, bedeutete dies einen unvergleichlichen Durchbruch für die Medizin - und ich hatte einen Anteil daran gehabt. Zwischen diesen Gedanken blieb ich hin und hergerissen, während wir uns für die Operation im Stillschweigen vorbereiteten.

Als ich mich über ihn beugte und einen perfekten Schnitt machte überkamen mich plötzlich die Gewissensbisse. Unsterblichkeit war unnatürlich. Was Reinhardt tat, war unnatürlich. Es lag nun in meiner Macht, ihn zu stoppen. War das als guter Mensch nicht meine Pflicht? Wie viele Unschuldige würden ihm noch zum Opfer fallen? Und - und diese Angst war letztendlich entscheidend - würde ich morgen wieder heil nach Hause kommen, nachdem er mir sein Geheimnis so offenbart hatte? Natürlich nicht! Hatte Marie nicht erzählt, dass Reinhardt sein Labor immer streng verschlossen und seine Arbeit geheim gehalten hatte? Als er erfuhr, dass ich Arzt bin, sah er eine Möglichkeit - er hatte mich einfach in eine Falle gelockt! Aber er hatte sich mit seinem Vertrauen in mich verschätzt. Nun lag er da auf seinem OP-Tisch, vollkommen narkotisiert und mitten in der Operation. Ich konnte fliehen und er würde es nicht merken, bevor ihm jemand fand und ihn aus seiner Narkose aufwecken würde, oder wenn das Narkotikum aufgebraucht war und er von selbst aufwachen würde. Ich versuchte nicht an seine Reaktion zu denken, falls letzterer Fall eintreten sollte. Es bestand aber auch die Chance, dass er vorher sterben würde... Ein Mensch, der nach Unsterblichkeit strebt und auf dem Weg dorthin stirbt. Es war zu ironisch.

Das alles ist nun über ein Jahr her. Ich habe das Haus an dem Abend eilends verlassen und seitdem nie wieder irgendwas von Dr. Reinhardt, noch von Marie gehört. Ich weiß nicht, ob er es überlebt hat. Ich habe mich nie wieder in die Nähe seines Hauses getraut. Ab und zu glaube ich, dass es alles nur ein böser Traum war, dass es in Wirklichkeit keinen Dr. Reinhardt gibt. Aber der Wunsch nach Unsterblichkeit besteht, und ob Dr. Reinhardt eine Kreatur meines Unbewusstseins war oder nicht, ich bin mir sicher, dass es weitere Menschen mit dem gleichen Streben wie Reinhardts gibt, und ich kann nur hoffen, dass diese nicht die gleichen Wege gehen würden wie er.
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